Plötzlich Kanzler: Die SPD

Wie Olaf Scholz es schaffte, Kanzler zu werden, obwohl seine Partei vor der Bundestagswahl bereits abgeschrieben war. Ein Kommentar.

Am 09. August traten der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, der Vizekanzler Scholz sowie die beiden Vorsitzenden, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, vor die Presse. Man habe sich auf einen Kanzlerkandidaten verständigt, lange bevor Grüne und CDU diese Entscheidung fällten. Die Wahl selbst allerdings war eine Überraschung: Ausgerechnet Olaf Scholz sollte die Sozialdemokraten wieder ins Kanzleramt führen. Er, der bei der Wahl zum Parteivorsitz noch deutlich verloren hatte, der das Gesicht der bei den Mitgliedern so verhassten Großen Koalition war, sollte es richten. Das Kalkül: Scholz sollte als „zweite Angela Merkel“ inszeniert werden, der zwar durchaus für Veränderung steht, allerdings in Maßen und ohne große Hektik. Dies wurde im Laufe des Wahlkampfs sogar so sehr auf die Spitze getrieben, dass sich Scholz für das SZ-Magazin mit Raute, Merkels Markenzeichen, ablichten ließ.
Aber auch in öffentlichen Debatten, wie beispielsweise den Fernsehtriellen, handelte Scholz stets als der ruhige und sachliche Gegenpol zu Armin Laschet (CDU), der mit Hitzköpfigkeit und Leichtsinnsfehlern auf sich aufmerksam machte und Annalena Baerbock (Grüne), die mit Unsicherheiten, Versprechern und eigenen Fehlern von sich reden machte, als wochenlang die Plagiatsvorwürfe rund um ihr Buch in den Medien präsent waren. Wieder und wieder schien der SPD-Kanzlerkandidat wie der Fels in der Brandung.
Dabei ist auch er bei weitem nicht ohne Skandal durch den Wahlkampf gekommen – ganz im Gegenteil: Inmitten der heißen Phase, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wurde in Scholz‘ Ministerium gar eine Razzia durchgeführt, Scholz musste vor mehreren Untersuchungsausschüssen aussagen, da in seinem Ministerium gravierende Fehler in Bezug auf den Wirecard-Skandal gemacht wurden, aber auch, da Scholz‘ Rolle beim Cum-Ex-Skandal nicht abschließend geklärt war. Seinen beiden Mitbewerbern wurde aufgrund eines ungünstigen Lachens und aufgrund eines teilweise abgeschriebenen Buchs die Fähigkeit, Kanzler zu werden, abgesprochen, an ihm aber schienen sogar eigene politische Fehler einfach abzuperlen – auch, weil zwar jeweils ein erhärteter Verdacht im Raum stand, es aber nie zu einer Verurteilung oder einem Eingeständnis kam.
Und so blieb Olaf Scholz in der öffentlichen Wahrnehmung stets „das kleinere Übel“, die SPD gewann die Wahl und er wurde Anfang Dezember zum Bundeskanzler einer Ampel-Koalition gewählt.

Ein Kommentar von Tim Ständer

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